#kellusMauerfall

Die Hörfassung dieses Textes findest du bei youtube!

Manches in diesem Text ist vielleicht nur noch gefühlte Wahrheit. Dies ist nur ein fiktives Tagebuch gefüllt mit Erinnerungen eines 46jährigen an die Zeit vor 30 Jahren, als die Mauer fiel. Vor allem die Datierung der Ereignisse vor November und nach Oktober ist sicher nicht genau. Während ich schrieb, habe ich mir auch Fragen gestellt, auf die ich keine Antworten mehr weiß. Deshalb fehlt einiges, was vielleicht wichtig wäre, ganz . Die Namen der handelnden Personen sind nur teilweise erfunden. (November 2019)

Es ist Donnerstag, der 9. November 1989. Ich habe Französisch in der Nullten und noch nie ein Mädchen „richtig“ geküsst. Es ist ganz schön was los in meinem Land.

Nein, um zu verstehen, wer hier erzählt, muss ich wohl früher anfangen.

Ich im Jahre 1974 (Pausbackiges Baby in Babyschaukel guckt mit großen Augen und leicht kritischem Blick in die Welt)

1974 – Nee- So weit zurück nun auch wieder nicht!

(Kleiner Junge in viel zu weiter Hose grinst auf einer Mauer sitzend in die Kamera.)

1979 – Schon besser, aber immer noch zu früh. Das ist übrigens kurz vor unserem Umzug vom Altbau in Adlershof nach Johannisthal-Süd. Im Hintergrund die Wassermanstraße 60. Das spitzeste Haus von (Ost)- Berlin. Der Balkon unserer Wohnung im Erdgeschoss ist ein rechtwinkliges Dreieck, unser Kinderzimmer wird von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand immer schmaler. Die neue Wohnung wird „Q3A“ sein. Zwei- zwei- halbe Zimmer im 1. Stock. Wir sind zu fünft, deshalb werde ich mir wohl wieder mit einem meiner Brüder das Zimmer teilen müssen. … Egal, los, weiter!

Vielleicht ja jetzt mal so ein, zwei Jahre vor der „Wende“?

Ich im Wohnzimmer auf dem Tisch ein Spiel aus „dem Westen“ ähnlich Monopoly

1987/88 JA! HALT Das ist gut. Sieht aus, wie im DDR- Museum oder? Schon ein bisschen schräg. Meine Kindheit wird schon am Ende meiner Pubertät Inhalt zahlreicher Ausstellungen und Museen sein, während ich noch mittendrin wohne!

Das Spiel auf dem Tisch heißt Tycoon. Offenbar eine für Nürnberg und Fürth lokalisierte Version. Meine Freundin hat mir das ausgeliehen, damit ich es nachbasteln kann. Monopoly hat ja jeder. Das Original abgemalt oder DDR- Fußballvereine oder die Straßen unser Gegend (Obwohl unser gesamtes Viertel den gleichen Namen hat.- Natürlich den eines Antifaschisten, Otto Springborn)

Meine Zimmerwand (Wand mit Plakaten von Limal, den Phudys, Lex Barker als Old Shatterhand, Udo Lindenberg, Münchner Freiheit, Gerhard Schöne, ein paar Loks und eine Zeichnung mit Beeker (falls man den so schreibt) aus der Muppet- Show. Ein Geburtstagsgruß einer Klassenkameradin)

Anfang 1988. Ich habe ein eigenes Zimmer. Mein großer Bruder ist ausgezogen, damit gebührt mir nun das Recht als ältestem Bruder „Zimmer 1“, gleich neben der Wohnungstür zu bewohnen. 2×4 Meter. 8 Quadratmeter! Alles Meins!

Ich bin ein sehr guter Schüler der 8a an der 19. Polytechnischen Oberschule „Doktor Richard Sorge„, meinen Mitschülern „gelte ich als gutes Beispiel.“ Schreibt mir jedenfalls meine Klassenlehrerin ins Zeugnis. Dabei habe ich nur eine gute Auffassungsgabe. Meine Hausaufgaben mache ich morgens um 6; wenn ich zur Nullten habe, klingelt mein Wecker um 5, damit ich sie schaffe. Naja, immerhin mache ich sie.

Seit der Siebten lerne ich französich. Ich liebe „Liebling Kreuzberg“ und wollte seit letztem Jahr Anwalt werden. Aus irgendeinem Grund meine ich, dafür Latein zu brauchen, da ist französich ja schon nah dran. Außerdem kann man die Begleitfilmchen zu englisch drei mal in der Woche zu verschiedenen Zeiten im Fernsehen sehen. Das kann ich also nebenbei mitlernen. Für Französisch sind es nur Hördokumente, die zu blöden Zeiten im Radio laufen. Oder von unserer Französischlehrerin- die aus der UdSSR kommt und bei der wir auch schon seit Jahren russisch haben- vom Tonbandgerät abgespielt werden. In französisch sind wir nur zu fünft. Mittlerweile will ich auch gar kein Anwalt mehr sein. Die müssen ja auch die Verbrecher verteidigen. Nicht so wie im Fernsehen, wo am Ende rauskommt, dass es ein ganz anderer war.

Seit der fünften Klasse bin ich fest mit Kirstin zusammen. Aber das ist irgendwie anders geworden, weil wir beide gemerkt haben, dass jetzt langsam was anderes passieren müsste, als gemeinsam Hausaufgaben zu machen oder auf dem Sofa zu sitzen und T’Pau zu hören.

Ich spiele Gitarre. Naja, ich schrammel ein paar Akkorde, die ich bei Frau Garn gelernt habe. Frau Garn war in der 5. unsere Lehramtsanwärterin. Natürlich war sie wunderschön und alle Jungs in sie verknallt. Ich nicht. Ich hatte ja Kirstin. Und da guckt man nicht nach andern Weibern, wenn man fest mit einer zusammen ist. Jeden Mittwoch ging ich zu ihr. Mit 3 anderen aus meiner Klasse. Sie zeigte uns dann in ihrer Wohnung in der Nähe vom alten Rathaus ein paar Akkorde, nachdem wir endlich unsere Gitarren gestimmt hatten. Hinterher machte sie uns Nudeln mit Tomatensoße. Manchmal schreibe ich auch eigene Texte. Mein erstes „Lied“ war die Vertonung eines Gedichtes über die Auflösung der „Ärzte“, das ich im Radio gehört habe. Auch an Liebesliedern habe ich mich schon probiert. Manchmal kommen mir auch Texte dazu in den Sinn, wie wir miteinander umgehen. Dass man sich doch helfen sollte, weil wir doch eine Gemeinschaft sind, ganz egal, wer und wie wir sind. So ein bisschen wie bei „Wellensittiche und Spatzen“ von Gerhard Schöne. Den find ich klasse.

Ich bin seit der 1. Klasse fast jedes Jahr im Gruppenrat der Klasse oder sogar im Freundschaftsrat der Schule „Agitator“. Diese Rolle „sollte ich ernster nehmen“, steht in meinem Zeugnis. Aber bis auf Vorsitz und Stellvertreter werden die restlichen Posten doch sowieso eher wahllos verteilt. Die Anderen machen doch auch nichts, als der Freundschaftspionierleitung zuzuhören.

Seit wir in der FDJ sind heißt der Freundschaftsrat GOL und ich bin „Wehrerziehungsbeauftragter“ geworden. Das obwohl es wenig gibt was mir mehr Angst macht als die Tatsache, dass ich in ein paar Jahren zur NVA muss. Dieses ganze Schießzeug ist nichts für mich. Ich habe Angst vor dem Marschieren, dem Drill und vor allem fürchte ich mich jetzt schon vor den „Kameraden“ die mich nicht mögen werden, weil ich denen zu weich bin.

Aber ich bin überzeugt von unserem Arbeiter- und Bauernstaat. Es ist doch schön in einem Land zu leben, in den jeder Arbeit hat, wo auch ich Arbeit haben werde, in dem ich mir keine Sorgen machen muss. Ich habe mir nicht die Ohren anlegen lassen. Ernst Thälmann hatte auch abstehende Ohren. Und der ist doch schließlich unser Vorbild!

Ok, ich kann nicht reisen wohin ich will, aber ich bin sowieso eher ein Stubenhocker. Wenn ich erst Rentner bin, wie Oma, dann kann ich ja auch mal rüber. Außerdem war ich doch schon im Ausland! 1986 in Ungarn als Auszeichnungsreise. Da habe ich in Budapest zum ersten mal Bettler gesehen. Und dass Läden verschiedene Preise haben. Teilweise innerhalb eines Tages wechseln die an ein und demselben Marktstand! Und Sven konnte sich ALLES leisten. Weil er 10 Westmark im Schuh geschmuggelt hatte.

Dann im letzten Jahr in der Pionierrepublik (ok, das ist kein Ausland aber sehr multikulturell). 6 Wochen. Während der Schulzeit! Auf dem Gelände gab es neben den Unterkünften einen kleinen Zoo, ein Kino einen Kiosk und sogar eine Schule! Allerdings haben die viel zu weit hinten im Stoff angefangen, da musste ich wieder zu hause ne Menge nachholen. Weil ich Französisch hatte war nicht bei den anderen Berlinern sondern in einer Gruppe hauptsächlich aus dem Bezirk Dresden. Sogar gearbeitet haben wir manchmal. Gleich hinter dem Eingang war eine Baracke, in der wir CCE- Stecker zusammengeschraubt haben. Vielleicht sogar für den Westen. Ich habe mal einen Quelle- Katalog gesehen, da war auch Spielzeug drin. Und Musikinstrumente für Kinder. Aber die kamen alle aus Klingenthal, das konnte man genau sehen. Können die drüben sowas nicht?

Man grüßte sich mit „Freundschaft“ Abends schaute man gemeinsam die aktuelle Kamera und sollte in seinem Tagebuch seine Gedanken zu einem innenpolitischen Thema aus der Sendung aufschreiben. Oder irgend welche Artikel abschreiben. Mittwochs war „Massensingen“ Alle Pioniere sammelten sich im Kino und sangen gemeinsam „Unsere Heimat“, „Guantanamera“ oder „Bella Ciao“. Das klang so beieindruckend. Dieses Gemeinsame machte so viel Mut! Unten am Wasser gab es einen Kiosk, da konnte man Eis am Stiel kaufen. EIS AM STIEL! Vanille mit Schokolade drüber. 45 Pfennig. Abends haben wir uns unten am Wasser auf der Kletterburg getroffen und wer wollte, hat geheiratet. Wenn man wollte, wurde jeden Abend gewechselt. Mit Küsschen. Ich war in den 6 Wochen 3 mal verheiratet. In einer Nacht sind wir sogar heimlich hoch zu den Mädchen und sind fast die ganze Nacht geblieben. Wir haben in den Betten neben den Mädchen geschlafen und uns einen Wecker gestellt, damit wir vor dem Wecken zurück sind. Auf dem Weg in unser Zimmer haben wir uns leider auf der Treppe so ausgelassen über unseren Erfolg gefreut, dass wir erwischt wurden. Auf dem bunten Abend habe ich „Bodo mit dem Bagger“ gesungen. Umringt von den Mädchen, die dazu rhythmisch geklatscht haben. Außer einer. Die hat immer daneben geklatscht.

Ich glaube, ich habe Kirstin hinterher nicht alles erzählt.

Und im Januar war ich gerade erst in Leningrad. Da hab ich mir meine Super 8 Kamera gekauft. Die waren da billiger. Hab ich ordentlich für gespart. Und mein Erspartes in Rubel getauscht. Ich habe wieder arme Menschen gesehen. Was ich für die Kamera auf den Ladentisch gelegt habe entsprach einem Jahresgehalt in der Sowjetunion Für das Geld hätte ich mir in Leningrad 3 Grundstücke kaufen können. Und ich habe einen Granatapfel gegessen. Urst schau.

Wir haben es ziemlich gut in unserem Land, glaub ich.

Von unserer Wohnung aus kann man in den Westen gucken. Nicht einfach auf die Mauer. Dafür müsste man erst ins Grenzgebiet. Seit ich 14 bin, darf ich da aber nicht mehr ohne Genehmigung rein. Zum Glück wohnt da keiner, mit dem ich mich treffen würde. Nein, man kann richtig in den Westen sehen. Da sind zwei riesige, grüne Tanks. Da stehen zu Weihnachten sogar Weihnachtsbäume drauf. Die Leute sagen, die würden für uns „im Osten“ aufgestellt, damit wir daran Freude haben.

Kurz vorm Bahnhof Plänterwald kann man im Westen Hochhäuser sehen. Man sagt, in einem davon wohnt Nena. DIE NENA. Nena hat eine Schwester, die heißt Nane. Ich weiß aber nicht, ob das stimmt.

Man kann ja auch keinen fragen, ob das so wirklich ist. Mit der Kommunikation in den Westen scheint das ganz schön schwierig zu sein. Wenn Radio- oder Fernsehsender ihre Adresse sagen oder einblenden, wird immer noch eine Adresse mit irgendeinem normalen Namen gesagt. Die Leute sagen das ist, damit die Briefe auch beim Westradio ankommen. Als wenn sich die Stasi für mein Lieblingslied interessieren würde!

Früher, als Uroma noch lebte, haben wir auch Post aus dem Westen bekommen. Ich kann mich nicht an sie erinnern aber jedes Jahr um Weihnachten bekamen wir ein Paket mit Schokolade und einer Dose Ananas. Die haben wir immer bis zum nächsten Jahr Weihnachten aufgehoben. Muss eine extrem wertvolle Frucht sein. Kommt ja auch von ganz weit weg.

Seit Oma in den Westen darf, gibt sie uns manchmal Westgeld. Das tauschen wir dann in Forumchecks und gehen in den Intershop in Baumschulenweg. Das ist ein kleiner Container in dem man vieles kaufen kann, was ich in der Werbung gesehen habe. Auch Kassettenrecorder. Und Walkmans. Einmal hab ich mir einen Monchichi gekauft. Es ist aber alles sehr teuer. Meist reicht das Geld für ein Matchbox- Auto und ein Überraschungsei. Weil die im Westen so komische Preise haben, und man auf Forumchecks aber kein Wechselgeld geben kann, gibts am Ende immer so kleine Schokotäfelchen.

Ich habe gehört, dass Lebensmittel drüben zwar viel besser aussehen und vielleicht auch besser schmecken aber so teuer sind, dass sie sich niemand leisten kann und alle hungern müssen. Schlimm.

Mai 1988 – Meine Jugendweihe! Ich bin jetzt im Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Es gab im Festsaal der Akademie der Wissenschaften eine Feierstunde mit klassischer Musik. Die Direktorin hat gesprochen. Von Verantwortung in der sozialistischen Gesellschaft, von Frieden und Sozialismus. Die Lehrer müssen uns jetzt mit „Sie“ anreden, es sei denn, wir erlauben ihnen, uns zu duzen. Werden wir natürlich tun. Außer vielleicht bei der Bio- Lehrerin. Die ist komisch. Gleich treffe ich mich mit Steffen und Marco. Wir wollen jeder eine Flasche Sekt mitbringen und um die Häuser ziehen.

Ich besuche Kirstin kaum noch. Aber ich denke oft an Jana und Katrin aus der Pionierrepublik und an die gemeinsame Nacht. Und manchmal schiele ich zu Claudia rüber. Die ist auch nett. Aber wir sind nur Freunde.

Juni 1989 – Bald komme ich in die 10. Klasse. Ich möchte jetzt doch Koch werden. Ich werde mich im Hotel Metropol bewerben. Da werden aber nur 3 genommen. Erstmal das Bewerbungsgespräch abwarten.

Jetzt müssen wir aber erstmal ins Wehrlager. Wir sind mit den Köpenickern in Kalinin bei Potsdam. Der Ort heißt eigentlich anders, aber wen interessiert das schon? Wir waren hier schon vor zwei Jahren als Klassenfahrt. Unser damaliger Lehramtsanwärter stand eines morgens nicht auf. Wir sind allein frühstücken gegangen und haben ihm dann Kaffee und Brötchen auf sein Zimmer gebracht. Er war ganz schön angeschlagen. Hatte wohl mit Lehrern anderer Schulen die ganze Nacht agitiert. Jedenfalls war die Klassenfahrt ab da ziemlich locker. Oh- und Mandy hat ganz aus Versehen am Strand ihr Handtuch fallen lassen und viel zu lang gebraucht, sich den Badeanzug hochzuziehen. Das war schön.

Jetzt sind wir wieder hier. Wir lernen, ein Maschinengewehr auseinander zu nehmen und wieder zusammenzusetzen. Mit einem Holzgewehr sind wir eine ganze Runde um den Frauensee gerannt. Ich hatte persönliche Bestzeit! Der UvD hat trotzdem gemeckert. Auf der Sturmbahn bin ich von der Eskaladierwand geplumst. Seit dem muss ich zwar noch marschieren, während die anderen durch den Wald laufen, sitze ich aber beim Sani und rolle Mullbinden auf. Wir lernen auch, mit dem Kompass zu navigieren und mit Hilfe der Finger und Orientierungspunkten im Gelände Entfernungen zu berechnen.

Einmal hatten wir Nachtwache. Wir hatten uns aus unseren Planen vorschriftsmäßig ein Zelt gebaut. Diese Planen sind toll. So eine hätte ich gern. Während wir auf das Ende der Nacht warteten raschelte es unten am Wasser. Bestimmt nur eine Ente. Nein! Da waren Schritte! Da kam einer vom Wasser auf uns zu! Aber wer? Und warum? Wir wollten noch nicht sterben! Warum hatte sich der Klassenfeind ausgerechnet den Frauensee als Einmarschpunkt in die Deutsche Demokratische Republik gewählt?! Gab es etwa einen geheimen Tunnel von Westberlin bis hierher? Mutig funzelten wir uns mit unseren blechernen 3Farben- Flachbatterie- Taschenlampen dem kapitalistischen Marodeur entgegen.

War dann aber doch nur der Unteroffizier vom Dienst, der heimlich im Wald eine rauchen war. Glück gehabt. Dieses Mal.

Natürlich waren wir auch schießen. Auf einem echten Übungsgelände der NVA. Vorher und nachher wurden wir sehr genau gefilzt. Sogar unsere Trinkflaschen mussten wir auskippen damit auch dort keine Patronen versteckt sein konnten. Einer aus der b fand es lustig, Steine in die Trinkflasche zu werfen, so dass es verdächtig klapperte. Der Unteroffizier fand das glaub ich nicht. 2 mal 3 Schüsse sollten wir auf Zielscheiben abfeuern. Wir lagen nebeneinander auf dem Wall, was jetzt passieren würde hatten wir etliche Male im Lager geübt. FEUER FREI! Zuletzt noch überprüfen, ob die AutomatikPENGPENGPENG!

Der Köpenicker neben mir hatte wohl vergessen die Automatik auszuschalten.

Wir bekamen unsere Scheiben und mussten unsere Treffer ordnungsgemäß ansagen:

„Trefferbild: Fehler-Fehler-Fehler, Fehler-Fehler-Fehler.“

„DAS IST KEIN TREFFERBILD!“

Zur Hälfte des Lagers kommt unsere Lehrerin uns besuchen. Sie erzählt von den Mädchen und den Asthmatikern, die Zuhause ZV Zivilverteidigung machen. Die marschieren weniger, schiessen nicht, lernen dafür aber wie man im Kriegs- oder Katastrophenfall Verbände anlegt. Das gipfelt jedes Jahr in einem Probe-Alarm, bei dem der Chemie-Raum in die Luft fliegt. Überall werden Verletzte und Trümmer verteilt. Der alljährliche Höhepunkt ist dann erreicht, wenn irgendein Lehrer mit Theaterschminke blutüberströmt auf der Tür des Chemie-Raumes nach draußen getragen wird.

Als wir so beisammen sitzen, sagt Frau Klaffenbach dann in ihrem leicht vogtländischen Dialekt: „Ich habe das Gefühl, ihr seid die letzte Klasse, die ich hier besuchen muss“

August 1989 Ich bin Putzi in Pustow. Ich fahre auf einer Ferienfreizeit des VEB Kühlautomat mit. Als Ferienjob. Steffen und ich müssen das ganze Ferienlager putzen von morgens die Küche bis abends die Klos. Mit Bindeneimer wegbringen. Das führt hin und wieder zu peinlichen Situationen. In der Mittagspause putzen wir die Gemeinschaftsräume. Das Putzen ist anstrengend aber sonst ist es herrlich. Wir teilen uns einen Bungalow mit den Küchenmädchen und haben jeden Abend Spaß bis in die Nacht, weil wir uns immer wieder vornehmen, durchzumachen. Irgendwann schlafen dann aber doch immer alle. In der Mädchengruppe gibt es eine, die ich besonders finde. Sie trägt meist schwarz, dadurch sieht sie geheimnisvoll und schön gleichzeitig aus, fast wie im Traum. Außerdem hört sie coole Musik.

Während der Mahlzeiten sitzen wir am Lagerleitertisch. Die Kinder haben einen Tisch pro Gruppe, der Tischdienst kümmert sich um alles. Die Gruppenleiter, Putzis und Küchenhelfer sitzen mit der Lagerleitung an einem Tisch. Das ist ziemlich cool. Der Lagerleiter bringt jeden Abend Knoblauch mit. Den schneiden wir uns ganz klein und legen ihn auf eine Butterstulle. Das hat erstmal ziemlich scharf geschmeckt aber jetzt ist es cool, dass wir zu den Erwachsenen gehören. Naja, fast, wir müssen um 10 im Bungalow sein.

Ein Teil des Ferienlagers gehört der Stasi. Das ist ein bisschen merkwürdig, obwohl man das meist gar nicht merkt. Man sagt, die von der Stasi wüssten die besten Stasi-Witze. Wir wollen es aber nicht auf einen Wettkampf ankommen lassen, nachher schreiben die sich das auf.

Bei den Küchenhelferin ist eine dabei, die ist schon 18. Sie wirkt immer etwas traurig und in Gedanken. Ihre Eltern sind vor 10 Jahren in den Westen gegangen und haben sie bei den Großeltern gelassen. In unserer Klasse haben wir einen, dem es ebenso ging. Sie ist immer noch traurig, immer noch fehlen ihr ihre Eltern, immer noch fragt sie sich, warum sie nie zurück gekommen sind. Mich berührt das sehr und ich schreibe ihr ein Lied, das ihr sogar gefällt. Ich leihe mir eine E-Gitarre aus, weil ich meine Wandergitarre nicht mithabe. Es macht Spaß zu spielen, allerdings sind jeden Abend meine Finger blutig. Auch die anderen Mädchen wollen jetzt, dass ich was für sie schreibe. Das tue ich und schreibe auch noch einen Lagersong, den ich beim bunten Abend vorspiele. Dann ist die E-Gitarre sogar angeschlossen. Klingt geil. Das Lied für das Mädchen spiel ich lieber nicht. Die Stasi ist auch da und es gibt da diese Zeile „Sie wollten geh’n in ein besseres Land mit viel mehr Freiheit und ohne Wand“ Das könnten die vielleicht falsch verstehen, weil ich meine das ja ironisch, weil es gar kein besseres Land ist, sondern da alle arbeitslos sind.

Der Bademeister hat irgendwas mit dem Chlor falsch gemacht. Alle die täglich ins Wasser gehen und blond sind, bekommen langsam grüne Haare. Hoffentlich wäscht sich das schnell wieder raus! Naja, wenigstens hat der Bademeister auch lange, strohblonde Haare.

Wir verabreden uns, alle im nächsten Jahr wiederzukommen.

September 1989 in den Ferien gab es viele verwirrende Nachrichten. Von Demonstrationen in Leipzig, von Veranstaltungen in Kirchen, in denen für Frieden und Freiheit gebetet wurde. Aber uns geht es doch nicht schlecht! Unser GOL- Vorsitzender ist nicht aus dem Urlaub in Ungarn zurück gekommen. Sein Freund behauptet, er hätte mit ihm telefoniert und er hätte gesagt „Heute bin ich in Östereich und morgen schon in Westdeutschland.“ Das stimmt doch nicht oder? Der ist doch kein Verräter?

Und in Prag und anderen Bruderländern sind Bürger unseres Landes über den Zaun der BRD-Botschaft geklettert. So viele! Viel zu viele, die passen da gar nicht rein! Die wollen auch alle rüber! Warum? Was ist mit unserem Land? Mit unserer Zukunft hier? Es geht doch voran! Wir haben funktionierende 32 bit Prozessoren geschaffen. Es gibt jetzt sogar Videorecorder zu kaufen! Gut 90 Mark sind eine Menge für eine Kassette, da ist mein Vierspurtonband noch die bessere Wahl. Aber wenn die alle gehen, kann es ja nicht voran gehen. Vielleicht weiß Gorbatschow ja was.

Ich habe Angst.

Es ist Donnerstag, der 9. November 1989. Ich bin vor zwei Wochen 16 geworden. Ich habe Französisch in der Nullten und noch nie ein Mädchen „richtig“ geküsst. Es ist ganz schön was los in meinem Land.

Überall wird für Reformen demonstriert. Seit so viele in den Westen abgehauen sind rufen sie „Wir bleiben hier“ und „Wir sind das Volk“ Manchmal gibt es Gewalt bei den Demonstrationen. Das hört man aber nur im Westfernsehen. Gorbatschow war hier und hat mit Erich Honnecker geredet. Ich durfte nicht zum Republikgeburtstag. Mutti hatte zu viel Angst. Wegen der Demonstrationen.

Erich Honnecker ist zurück getreten. Der Staatsratsvorsitzende heißt jetzt Egon Krenz und sieht aus, als würde er nie schlafen. Vorher war Egon Krenz Vorsitzender der FDJ. Das war Erich Honecker auch vorher! Ist das immer so, die Reihenfolge? Dann wäre unser nächster Staatsratsvorsitzender wohl Ebehard Aurich. „Hallo Fans von Egon Krenz- seid nich traurich, jetzt kommt Aurich!“ Gnihihi

Es soll sich jetzt vieles ändern. Es gibt auch schon was cooles neues „ELF99“ im Fernsehen. Das ist eigentlich die Postleitzahl von Adlershof. Da sind die Fernsehstudios. Das ist eine Sendung für Jugendliche. Richtig gut gemacht. Mit Musik und Serie und manchmal auch einer irren Dokumentation.

Parteien haben sich gegründet, die mitregieren wollen. Die haben gesagt, die letzte Wahl wäre gefälscht gewesen. Das versteh ich nicht. Ich darf zwar noch nicht wählen aber man macht doch einfach nur sein Kreuz bei „ja“ und hat dann alle gewählt. Oder?

Ich muss langsam ins Bett. Ich gehe am Wohnzimmer vorbei. Papa guckt Nachrichten und Mama schläft im Sessel. Das macht sie auch, wenn wir am Wochenende zusammen eine bunte Sendung gucken. Sie wacht aber immer am Ende der Sendung auf, so dass wir nie weitergucken können. Wie macht die das?

Papa sagt: „Du, die wolln die Mauer uff machen!“

Aha. Solln die doch alle abhaun, wenn die nicht hier wohnen wollen. Ich geh erstmal ins Bett. „Gute Nacht!“

10. November 1989 Ich sitze in der Schule. Ziemlich allein. Natürlich nicht allein aber gefühlt die Hälfte der Klasse scheint krank zu sein. Alle sind aufgeregt und durcheinander. Die haben tatsächlich die Mauer aufgemacht. Man kann mit Ausweis oder Pass einfach rüber. Wer nicht mehr in der DDR leben will, muss nicht mehr in die CSSR oder nach Ungarn. Ich weiß nicht, ob das gut ist für unser Land.

Plötzlich geht die Tür auf. Sandra, Anja und Nancy kommen herein. Die sehen alles andere als krank aus. Sie gröhlen „So ein Taaaag, so wunderschön wie heuteeeee!“ und schwenken dabei ihre Coladosen. Coka Cola! COKE! IN DOSEN! In ihren Händen! An Unterricht ist nicht mehr zu denken. Wir müssen reden. Die waren im Westen!

Endlich ist der Unterricht vorbei. Ich nehme meinen Aktenkoffer- klar schwarz mit Zahlenschloss, was sonst?- und mache mich auf den Heimweg. Thorsten kommt mir entgegen und ruft mir zu ich solle mich beeilen, meine Mutter würde auf mich warten. Die will rüber.

WAAAAS?????!!!!!!!

Ich.Will.Nicht.Rüber. Was soll ich im Kapitalismus? Und warum will Mutti da hin? Die war doch sogar gerade erst bei der Parteischulung. War hinterher noch mehr überzeugt von allem, so sehr, dass es uns Angst gemacht hat. Bisher war sie doch nur in der Partei, weil alle da sind.

Es hilft nichts, ich muss mit. Wir packen nicht mal irgendwas ein. Mutti hat schon meinen Pass in der Hand. Den hab ich seit Leningrad.

Wir fahren mit dem Bus zum Übergang Sonnenallee. Das ist zwar nicht da, wo alle rüber gehen, aber von uns aus am Nächsten. Als der Bus die Baumschulenstraße runterfährt, sehen wir eine ewig lang Schlange. von Menschen, länger als sie je bei den Erdbeerständen war. 12 Mark pro Korb. Inklusive Pfand. Wir stellen uns hinten an. „Hinten“ bedeutet, dass wir fast am Bahnhof stehen. Hätten wir gleich mit der S-Bahn fahren können.

Was soll das alles? Wollen so viele Menschen rüber? Ich versteh das alles nicht! „Mutti! Ich will nicht in den Westen! Wir haben doch alles was wir brauchen und ich hab doch auch schon die Lehrstelle bei der HO!“

Das mit dem Metropol hatte nicht geklappt. Beim Bewerbungsgespräch sagte die nette Frau: „Willste Koch werden? Oder willste im Hotel Metropol arbeiten? Hier wirds schwer ne Stelle zu kriegen, aber bei der HO gibts reichlich. Da kannste vielleicht sojar mal int Restaurant im Fernsehturm“ Vermutlich waren die 3 Stellen schon lange über „Vitamin B“ verteilt worden. Ich hab mich dann doch direkt bei der HO beworben. Und wurde genommen. Wo ich hinkomme erfahre ich erst noch. Ich denke nicht, dass es der Fernsehturm sein wird. Vermutlich werde ich mein Leben lang in irgendeinem Dorfgasthof Preisstufe II Sojanka umrühren.

„Mutti! Was wolln wir denn da drüben? Da drüben ist der Kapitalismus! Da werden wir hungern und arbeitslos sein! Und wenn wir nicht arbeitslos sind werden wir Angst haben, unseren Job zu verlieren und uns nie trauen, Urlaub zu nehmen!“

„Sachma Frank, biste bescheuert? Dir hamse woh mitn Klammerbeutel jepudert?! Wir jehn natürlich nachher zurück!!

Ach so.

Irgendwann muss an der Sonnenallee das gleiche passiert sein, wie letzte Nacht an den Übergängen. Nachdem wir stundenlang nur millimeterweise vorangekommen sind, geht es plötzlich schneller. Die Schranken sind offen. Unsere Pässe werden nur im Vorbeigehen gestempelt.

Wir sind im Westen.

Hier warten keine Massen jubelnder Westberliner auf uns, so wie ich es abends im Fernsehen sehen werde. Aus den zahlreichen Fenstern der Hochhäuser links und rechts werden wir zwar freundlich aber auch misstrauisch aus Augen in aller Herren Länderfarben beobachtet.

Wir laufen ein paar hundert Meter die Sonnenallee hinunter. Plötzlich ist links eine Lücke in den Hochhäusern. Ein offener Platz mit einem Supermarkt. Mutti hat ein paar Westmark von Oma dabei. Wir gehen staunend an den Regalen vorbei. Alles bunt und aus Plastik und alles da, was wir in der Werbung gesehen haben. Wir stehen an der Kasse und werden von einer netten Dame vorgelassen. „Willkommen in Westberlin!“ sagt sie. „Danke.“ Mutti bezahlt für jeden von uns eine Dose Coka Cola. Dann gehen wir in die DDR zurück und fahren mit dem Bus nach Hause.

Abends sehen wir fern. Sehen die Bilder, die bestimmt in 30 Jahren noch immer an diesem Tag zu sehen sein werden. Jubelnde Menschen, die auf röhrende Trabis und Wartburgs hauen und ein Typ vielleicht 2 oder 3 Jahre älter als ich, der in die Kamera gröhlt: „Dis is alles so wonderbor! Achdnzwansch Johre ham se misch eingesperrt. Vertsch Jahre belogn und betrogn abor jetz sind mir FREI! SO EIN DAAG….“ Na hoffentlich gilt der nicht als Blaupause für das, was die Westdeutschen für den typischen Ostdeutschen halten!

11.11.1989 „Heute holn wir uns das Begrüßungsgeld!“ Ich bin mir ja nicht sicher, ob wir das noch bekommen, jetzt wo alle rüber dürfen. Aber gut. Wir fahren wieder zur Sonnenallee. An „unserem“ Supermarkt ist auch eine Sparkasse. Die ist aber rappelvoll. Man empfielt uns, ein Stück die Straße runter zu gehen, da wäre noch eine Bank. Auch hier ist eine lange Schlange. Während wir warten erfahren wir, dass man nur für die Personen 100 D-Mark bekommt, die auch tatsächlich da sind. Nicht etwa für die ganze Familie. Mein schlechtes Gewissen, weil sich das, was wir hier tun irgendwie nach Betteln anfühlt wird weniger als ich mitbekomme, wie in der Schlange Kinder gegenseitig angeboten werden, damit die Anzahl der mitgebrachten Kinder mit der Anzahl der Kinder im Ausweis übereinstimmt. Andere diskutieren darüber, wie man den Eintrag im Ausweis wohl ausradieren könnte um Montag nochmal zu kommen.

Als wir dran sind bekommen wir tatsächlich jeder einen 100 D-Mark Schein ausgezahlt. Einhundert Westmark! Sven hatte damals nur 10! Pah!

Als Ossis dürfen wir unter Vorlage unseres Ausweises kostenlos mit der BVG fahren. So richtig verstehe ich das nicht. Wir haben doch jetzt Geld! Mir solls recht sein. Aber langsam verstehe ich, warum die Kapitalisten alles für sich brauchen und nicht an die Arbeiterklasse weitergeben. Sie werfen es lieber jedem dahergelaufenen Fremdling hinterher in der Hoffnung, daraus noch mehr Profit zu schlagen. Wir fahren mit der U-Bahn zum Hermannplatz. Hier soll es ein großes Karstadt- Kaufhaus geben. Wieder an die Oberfläche gespuckt sehen wir uns umgeben von Menschen aus allen Ländern der Welt. Ist der Westen vielleicht doch gar nicht so schlecht, so dass es sich hier für viele Menschen gut leben lässt? Wir betreten den Konsumtempel und ich bin erschlagen. Zuerst von den zahlreichen Düften die mir nach der Wand aus warmer Luft entgegenschlagen dann von der Spielzeugabteilung. Was ich allabendlich im Westfernsehen zwischen den Folgen von „Trio mit 4 Fäusten“, „Hart aber herzlich“ und Simon und Simon“ gesehen habe, das sind keine vagen Ideen, keine Zukunftsmusik- in diesem Laden gibt es ABSOLUT ALLES, was ich je in der Werbung gesehen habe. Nicht nur das eine oder das andere Spiel, das gerade da ist, JEDES Spiel aus jeder verdammten Werbung, Hinter den HiFi- Türmen steht JEDE Platte mit jedem Lied das auf Rias 2 läuft, alles bietet sich mir zum Kauf dar. Und ich habe EINHUNDERT WESTMARK! Ich entscheide mich dafür, einen Teil meines Begrüßungsgeldes in ein „Scotland Yard“ zu investieren.

Ende 1989 Es wird gefeiert. Überall in Berlin, vor allem am Brandenburger Tor. Der Neue heißt nicht Aurich sondern Modrow. und ganz viele regieren mit ihm mit. Kohl war auch schon da. Und plötzlich rufen sie nicht mehr „Wir sind das Volk“ sondern „Wir sind EIN Volk“ Statt DDR- Fahnen wehen immer öfter die Fahnen der Bundesrepublik auf den Demos. Immer öfter ist von der „deutschen Einheit“ die Rede. Aber wir sind doch gar nicht eins! Wir haben 40 Jahre lang nebeneinander her gelebt, kennen uns überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, wir haben 40 Jahre lang gehört, wie doof der Andere ist. Wir müssen uns doch erstmal kennen lernen! Und ich hab doch auch meine Lehrstelle bei der HO! Sowas gibts im Westen gar nicht, glaub ich.

Anfang 1990 Frau Klaffenbach hat eine Überraschung für uns. Da das Reisen nun einfacher ist hat sie eine Patenschaft angezettelt. Mit einer Stadt namens Bückeburg. Irgendwo in Westdeutschland. Wir werden dort hin fahren! Mit der ganzen Klasse! Und da eine Woche bei denen wohnen! Noch vor den Prüfungen.

Es scheint mir immer wahrscheinlicher, dass es eine Wiedervereinigung geben wird. Ist ja auch eigentlich gar nicht schlecht. Nur über das wie und wann muss man gut nachdenken. Es sollte am Ende schon irgendwie von beiden Ländern was übrig bleiben.

Frühjahr 1990 Wir fahren nach Bückeburg. Unsere Patenklasse ist eine Klasse vom Adolfinum. Einem Gymnasium. Ich komme bei einer sehr lieben rumänischen Familie unter. Es gibt Essen im Überfluss, ich schlafe unter einer riesigen Federbettdecke, wie in Märchenfilmen und in dem Zimmer steht ein Computer. Ein C16 also fast so cool wie ein C64 oder ein Amiga. Mein Pate zeigt mir, wie man Spiele darauf startet. Ich spiele Asteroids und möchte nie im Leben mehr etwas anderes tun. Natürlich gehen wir auch mit unseren Paten in die Schule. Da werden wir ängstlich bestaunt. Es geht das Gerücht, dass die Schule bei uns viel besser wäre, wir viel weiter als sie seien. Ohne überheblich sein zu wollen, eine Stunde Mathe beweist, unser Ruf ist gerechtfertigt. „Meine“ rumänische Familie geht auch mit mir shoppen. Wir gehen in einen Laden in der Nähe des Schlosses. Er heißt „Heller und Pfennig“ und ich soll mir was aussuchen. Wieder sehe ich all die bunten Sachen und sehe, was sie kosten. Von fern strahlt mich der goldfarbene Olymp jedes Weihnachtsfestes meiner Kindertage an. Ich kann ihn hier erstehen und als Mitbringsel mit nach Hause nehmen. Die Dose Ananas. Für nur 49 Pfennig.

Was noch von Bückeburg im Kopf bleibt ist eine Kirche, die viel zu groß ist für die Stadt und eine Kneipe namens „Pflaumenbaum“ in deren Mitte ein Baum steht. Wo es „Schnaps zum Brilleputzen“ gibt und wo wir lustige Abende verbringen.

Die Bückeburger besuchen uns einige Wochen später. Wir fahren nach Sanssouci gehen in die Disco vom Bullinger und haben viel Spaß mit dem französichen Austauschschüler. Der wohnt bei mir, weil ich in französisch bin. Mein Rumäne, dessen Gastfreundschaft ich gern erwidert hätte kommt bei Martin unter. Unser Franzose möchte unbedingt einen „Trabi Sport“ fotografieren. Wir haben keine Ahnung ob es sowas überhaupt gibt. Irgendwann entdecken wir einen Trabi mit Turnschuhen auf der Hutablage. Wir haben „seinen“ Trabi Sport gefunden.

Mitte 1990 Die Einheit wird kommen. Bald wird es keine Ostmark mehr geben Verwandte und Bekannte aus Ost und überraschender Weise auch West versuchen ihre Mark- Bestände auf Konten zu packen, die noch nicht voll sind, so dass sie 1:1 in D-Mark getauscht werden und nicht im ungünstigeren Kurs von 1:2.

Wir haben Abschlussprüfungen. Weil man in all dem Chaos nicht weiß, wie wichtig russisch hinterher noch sein wird, haben wir das Angebot russisch schriftlich zu wählen (eine Übersetzung mit Wörterbuch) und dadurch eine mündliche Prüfung erlassen zu bekommen. Unser Abschied ist auch ein Abschied vom Osten. Lehrer weinen. Ich singe ein „Tschüss DDR“ Lied und die Direktorin dankt mir und weint noch mehr. Eine Cousine von mir war grad in der Ausbildung zur Freundschaftspionierleiterin. Sie soll versucht haben, sich das Leben zu nehmen.

Das Hotel Metropol hat sich gemeldet. Es hat die Lehrlinge übernommen, die durch die Abwicklung der HO nicht mehr dort gebraucht werden. Ich werde Kochlehrling in einem 4 Sterne Hotel im Zentrum Berlins!

Mein Bruder ist eingezogen worden. Weil er den Dienst an der Waffe verweigert hat, ist er zu den Bausoldaten nach Rügen gekommen. Das soll die Hölle da sein. Mitten in der Nacht wurden er und seine Kameraden aber auf LKW verladen und als er wieder klar denken konnte war er Heizer in einem Mädchenwohnheim der Universität Halle. Hätte schlimmer kommen können.

Die Bio- Lehrerin war Stasi- Informant heißt es.

Herbst 1990 Ich bin jetzt Koch- Lehrling. Nicht jeder hatte so viel Glück. Obwohl die Regierung etwas anderes versprochen hatte, haben viele keine Lehrstelle bekommen. Manche sind spontan auf die EOS gegangen und machen jetzt Abitur. Das scheinen im Westen ja viel mehr zu machen als bei uns.

Wir sind jetzt ein Land. Unter großem Jubel wurde die Einheit vollzogen. Sebastian Krumbiegel von den Herzbuben – äh den Prinzen wird einmal sagen:

„Wir haben uns vereinigt. Aber wir haben vergessen, vorher zu kuscheln.“

Chaotisches Jugendzimmer

Meine Wendegeschichte endet hier. Ich könnte noch ewig weiterschreiben, denn die Wende ist vielleicht heute noch nicht ganz vollzogen. Aber das wird zu lang.

Ich könnte erzählen, dass ich nach der Kochlehre Zivildienst mache. In einem Krankenhaus. Dass ich immer öfter als Koch oder Betreuer oder bei Arbeitswochenenden in ein Kinderferienlager in Sachsen fahre und dass die Zeit mich sehr prägen wird. So sehr, dass ich nach der Kochlehre noch eine Ausbildung als Erzieher beginne

Lange Zeit kann ich nicht an einem Spielwarengeschäft vorbei gehen, ohne ein Spiel zu kaufen. Gut, so ganz ist das heute immer noch nicht vorbei.

1994 kommt es endlich dazu, dass ich „ein Mädchen „richtig“ küsse“.

1995 stirbt Mutti.

1997 nach Abschluss der Erzieherausbildung ziehe ich mit meiner Freundin nach Celle, wo sie sich wenige Tage nach dem Umzug von mir trennt.

2000 ziehe ich nach Peine nachdem ich schon einige Zeit dort arbeite. Im Kindergarten. Da wollte ich doch nie hin!

2002 melde ich mich in der Brettspielwelt an. Dort lerne ich meine wunderbare Frau kennen.

Wir ziehen gemeinsam nach Löhne. Hier nehmen wir 10 Jahre lang Pflegekinder auf und bekommen 2 eigene.

Ich könnte auch erzählen, dass ich vor ein paar Monaten in eine Facebookgruppe meines alten Heimatortes geraten bin. Ich habe tatsächlich Leute gefunden, die ich von früher kenne. Aus der Schule, aus Pustow. Ich bin da bald wieder raus. Die waren viel zu sehr damit beschäftigt, den Untergang des Abendlandes zu beklagen. Bei 10 % Hartz IV, 8 % Arbeitslosigkeit und einem Ausländeranteil von 1,2% oder so. Es ist so traurig.

„Aber das ist eine andere Geschichte. Und soll ein anderes Mal erzählt werden“

Wenn ich das so lese, klingt mein jüngeres Ich ziemlich naiv. Das war ich dann wohl. Ich habe alles für richtig gehalten, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich hatte oft genug gehört, was mich im „Kapitalismus“ erwartet. Und… naja… für nicht wenige ist es ja auch genau so gekommen.

Es ist gut so, wie es ist, für mich persönlich gut was geworden ist. Aber wenn ich durch Sachsen Anhalt oder Brandenburg fahre, wenn ich höre, was in Sachsen oder Mecklenburg Vorpommern abgeht oder eben auch nicht, dann sehe ich viele Abgehängte. Die nie in diesem Deutschland angekommen sind.

Und ich? Bin ich in diesem Deutschland angekommen? Mit dem Berlin von heute kann ich nichts mehr anfangen. Da bin ich ganz bestimmt nicht zu Hause. Ich habe mich in Niedersachsen wohl gefühlt, konnte sogar das Lied der Niedersachsen mitschmettern und wusste über Peine mehr als mancher Eingeborener. Dem Schlag von Mensch der hier in Ostfalen wohnt bin ich auch sehr zugetan. Wenn ich überhaupt irgendwem außer meiner Familie zugetan bin. Ich bin dann wohl tatsächlich fast überall in Deutschland zu Hause. Ob das gut ist, das erzähl ich euch vielleicht ein anderes Mal.

5 Antworten auf „#kellusMauerfall“

  1. Sehr angenehm zu lesen, man kann den Gedanken sehr gut folgen und verstehen.
    Pustow war auch das Betriebsferienlager meiner Kinder und hat wieder Erinnerungen hervorgerufen, auch wie preiswert es für Familien war, das Kinder ihre Ferien dort verbringen konnten.

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